Mitte September beschäftigten wir uns im zweiten Teil unserer Seminarreihe intensiv mit Steiners zweiter Monografie – seiner Inauguraldissertation an der Universität Rostock – der Schrift „Wahrheit und Wissenschaft“ (GA3). Gänzlich anders verlief dieses zweite Treffen im Vergleich zum ersten, bei welchem wir die Grundlinien bearbeiteten. In einer sehr viel intimeren Weise gestaltete sich dieses zweite Treffen. Ein kleines Örtchen an der Nordsee, Wobbenbüll, in der Nähe von Husum, sollte diesmal den äußeren Schauplatz unseres Seminars bilden. Dankenswerterweise bekamen wir dort ein Ferienhaus zur Verfügung gestellt, das bei unserem Unterfangen, in die steinerschen Gedankengänge einzutauchen, einen vorzüglichen Rahmen bildete. Auch hatten wir nun keinen uns anleitenden Dozenten engagiert; stattdessen bereiteten sich die Mitglieder unseres Kernteams im Vorhinein auf spezifische Kapitel des Buches und auf deren besonders herausfordernde Textpassagen vor, woraus sich ein stetiger und bereichernder Wechsel in der Gesprächsführung ergab.

Beobachten und Denken

Unsere Arbeitsatmosphäre

Inhaltlich beschäftigen uns diejenigen Themen, welche auch Steiner in seiner Schrift behandelt: Kant und der Neukantianismus, die naturwissenschaftlichen Anschauungen zu Ende des 19. Jahrhunderts, Fichte und dessen Identitätsphilosophie, die Frage nach einer voraussetzungslosen Wissenschaft und – selbstverständlich – auch die systematische Erforschung von Beobachten und Denken. Besonders die beiden zuletzt genannten Themengebiete stellten uns im Verstehen des steinerschen Textes und in den jeweiligen Diskussionen der Passagen vor größere Herausforderungen, die zu meistern wir jedoch zureichend imstande waren.

Umrahmt wurden diese Themengebiete von einem Referat zum historisch-editorischen Kontext des Buches und einem anderen Referat über Vexierbilder, die die Erkenntnisfähigkeit besonders herausfordern und diese damit an einem selbst anschaulich zu machen vermögen.

Man kann sagen, dass die Arbeitsatmosphäre von einem ehrlichen Ringen um ein echtes Verständnis der Philosophie Steiners geprägt war! Und so verwundert es kaum, dass uns dieses vergleichsweise kurze Büchlein über mehrere Tage beschäftigt hielt – und zwar so sehr, dass wir gegen Ende des Seminars fast in Zeitnot gerieten. Das hohe philosophische Niveau, von dem das Seminar geprägt war (immerhin musste das Buch zur Vorbereitung schon einmal gelesen worden sein), verließen wir regelmäßig, wenn es in die Pausen ging; denn dann entdeckten wir den hauseigenen Tischkicker für uns. Aber von den philosophischen Höhenflügen kamen wir auch dann hinunter, wenn wir Spaziergänge an den Deichen der wunderschönen Nordsee machten – die gesamte stimmungsmäßige Ruhe und Melancholie des Nordens umwehte uns dort. Die unendliche Weite des Horizonts, die gewaltige Größe der Wolken und das herrliche Schauspiel der Abendsonne besänftigten und weiteten die Seele für den schwierigen inneren Kampf um die gewichtigen philosophischen Gedanken.

Zeiter Teil der Seminarreihe Erkenntnistheorie Warheit und Wissenschaft. Pause auf dem Deich

Ein gewisses Umkrempeln…

Obwohl der steinersche Text – äußerlich betrachtet – lediglich eine zuweilen polemische Diskussion verschiedener Gedankenkonzepte und Weltanschauungen darstellt, so ist der Einfluss, den diese Gedanken auf das mitdenkende und damit gedanken- sowie welterzeugende Individuum machen, nicht zu verleugnen. Ein gewisses „Umkrempeln“ der gesamten inneren Weltanschauung kann bei einem ernsthaften sich Einlassen auf die Gedanken und Ideen Steiners beobachtet werden. Es handelt sich hierbei aber nicht um das dogmatische Übernehmen eines Glaubenssatzes. – Das verbietet allein schon die äußere Form des wissenschaftlich-philosophischen Textes. Steiner führt mit dem Leser eine didaktische Neukalibrierung des eigenen Denkens durch, bei dem der Leser die gedachten Gedanken aktiv nach- bzw. mitbilden muss, um überhaupt zu verstehen, wovon Steiner im eigentlichen Sinne schreibt. Die logischen Einwände, welche gegen diese oder jene Behauptung Steiners vorgebracht werden können, berücksichtigt er in einem besonders ausführlichen Maß.

Steiner weiß die kritizistischen Einwände des modernen Bewusstseins auf ihre ontologischen Grundvoraussetzungen zurückzuführen und damit auf ihre eigentliche logisch-argumentative Stichhaltigkeit zu überprüfen. Damit schafft er in seinen Gedankenoperationen eine glasklare Transparenz; der Leser weiß somit um die logischen Begründungen der von Steiner in diesem Buch vertretenen Weltanschauung sowie um ihre begründete Schlagfertigkeit gegenüber etwaigen Einwänden und anderen Anschauungen. Und obwohl sich Steiner selbst – gerade in der 1892 hinzugefügten Vorrede – in die Tradition der Klassischen Deutschen Philosophie stellt, so unterscheidet er sich gerade darin von Hegel, dass er seiner Philosophie keine „objektive Weltdialektik“ voraussetzt, die in einer fast schon dogmatischen Weise im Sinne der Eule der Minerva schlichtweg nach-vollzogen werden muss, sondern dass Steiner in seiner systematischen Untersuchung den Leser in einen didaktischen Prozess der aktiven Gedankenerzeugung mitnimmt und ihm in kleinteiliger Weise zeigt, wie genau eben diese erzeugt werden, wie sie miteinander zusammenhängen und welchen Geltungsbereich sie innehaben.

Steiners Philosophie ist letzten Endes immer eine solche Philosophie, die im immanentesten Sinne für den Menschen gemacht ist, denn am Ende steht für Steiner ein Ziel: der sich selbst im Kosmos erkennende Mensch.

Eine persönliche Bemerkung

Eine persönliche Bemerkung: Ich komme dennoch nicht umhin, diesem meinem Bericht noch ein Zitat der frühen hegelschen Religionsphilosophie anzufügen, dessen Erkenntniswert ich persönlich erst durch den besonderen Seminarort zu schätzen lernte:

Die große Form des Weltgeistes aber, welche sich in jenen Philosophien erkannt hat, ist das Prinzip des Nordens.

Hegel: GW 4. S. 316 f

Hegel nennt hier eine dem Schauplatz des Inneren zugewandte Denk- und Lebensweise das „Prinzip des Nordens“. Erst durch diese auf die subjektiven Denk-Prozesse gerichtete Blickrichtung kann „die große Form des Weltgeistes“ im philosophischen Denken des Individuums in Erscheinung treten. Hegel richtet sich in dieser Passage gegen seinen konzeptionellen Erzfeind: den alles separierenden und zerreißenden Verstand. Er warnt vor eben jenem Verstand, welcher im heiligen „Hain“ im Herzen des Individuums nur „Hölzer“ sieht, weil er subjektive Vorgänge im Individuum in einer unrichtigen Weise objektiviert. Diese Gefahr des übertriebenen Verstandes-Denken besteht durchaus auch bei der Lektüre von Steiners philosophischen Schriften. Wird gänzlich alles in einem formal-logischen Diskurs objektiviert und dadurch in seinem eigentlichen Sinn zerrissen, ohne daran ein inneres Gedanken-Erlebnis im Mitdenken der Schrift zu knüpfen, bleibt die wahre Intention der Schrift verborgen.

Deich an der Nordsee mit Bahndamm

Höchsteigenes Erkennen

Aber auch jegliche Kritik würde damit die Ebene verfehlen, auf der sich die Gedanken Steiners eigentlich abspielen müssten: im höchsteigenen Erkennen. Dies wird wohl auch ein Grund dafür sein, weshalb Steiners philosophische Schriften der akademischen und gerade der analytischen Philosophie hermetisch-esoterisch erscheinen und damit unzugänglich verbleiben werden. Und im Gegensatz zu Hegel, auf den genannte Kriterien in einem gewissen, aber doch anderem Maße auch zutreffen, ist Steiner sowohl im Kanon der Philosophiegeschichte als auch an den philosophischen Instituten der Universitäten kaum bis gar nicht etabliert.

Um Steiners Philosophie nachvollziehen zu können, ist ein intimer und innerlicher, wenngleich nicht unkritischer Umgang erforderlich. Wenn man so will, ist es eben Hegels Prinzip des Nordens, welches erforderlich ist, damit das Ich in der Philosophie den Weltgeist in Erscheinung bringen kann. Und wenngleich der äußere Norden (in diesem Fall die deutsche Nordsee) nicht für den inneren Norden stehen kann, so hat man dort doch das Gefühl, dass man vom Zug einer großen Innerlichkeit umweht wird.

Wir freuen uns bereits sehr auf den dritten Teil unserer Seminarreihe, in welchem wir den wissenschaftlichen Teil der Philosophie der Freiheit Rudolf Steiners ergründen werden! Nähere Informationen folgen.

Nicolas Blaue