Musik ist eine Kunstform, die ganz in der Zeit lebt. Auch sie zu hören, braucht Zeit. Dadurch offenbart sie die Notwendigkeit einer gerechten Verteilung der Zeit, die für Erwerbstätigkeit eingesetzt wird, damit potentiell allen Menschen Momente des unproduktiven Hörens ermöglicht werden. Gerade das Hören Neuer Musik ist bei Zeitmangel kaum möglich.

Die Ideen für diesen Aufsatz kamen mir durch die Beschäftigung mit der von Rudolf Steiner entdeckten sozialen Dreigliederung. Ich hoffe aber, dass sie auch ohne Vorkenntnisse der Dreigliederung nachvollziehbar sind.

Ich studiere seit zwei Jahren Komposition für Neue Musik an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock. Also ein Fach, zu dem nur wenige Menschen einen hörenden Zugang finden. Anders als in populären Musikrichtungen oder vielleicht auch der klassisch-tonalen Musik, können nur wenige Komponierende und Spielende neuer Musik von ihrem Schaffen leben. Deswegen scheint es ein Segen zu sein, dass uns von allerlei Seiten im Wesentlichen mit Steuergeldern unter die Arme gegriffen wird.

Mein Studium beispielsweise wird meines Wissens komplett mit Staatsgeldern finanziert. Auf diesen Umstand möchte ich kurz etwas genauer eingehen, weil er, glaube ich, sehr wichtige Aufschlüsse darüber liefern kann, wie sich das Verhältnis vieler Komponierender zur ihrer Hörerschaft auslebt.

Denn das Geld, das uns trägt, kommt genauer betrachtet nicht einfach vom Staat – der Staat erwirtschaftet vermutlich zum Glück das wenigste selbst – sondern es wird von anderen erwerbstätigen Menschen erwirtschaftet und dann der Gemeinschaft in Form von Steuern übergeben.

Ich kann komponieren und musizieren, weil für mein leibliches Wohl gesorgt ist. Gesorgt ist dafür durch die Arbeit anderer Menschen. Und weil wir Menschen nicht für uns arbeiten, sondern für die Mitmenschen, ist es möglich, dass manche etwas machen, dass nicht dem reinen Überleben dient. Eine, wie ich finde, sehr schöne Einrichtung.

Ich kann nur mutmaßen, was die ersten Tätigkeiten mit diesen Privilegien waren. Vermutlich musste das Komponieren sich zunächst hinter religiösen und lehrenden Berufen anstellen. Aber egal wer von der Lebensmittel- und Schlafplatzbeschaffung freigestellt wurde – alle anderen mussten dann etwas mehr erwirtschaften, damit kein Mangel entsteht. Trotzdem kann es allen zugute kommen, wenn einzelne nicht von rein körperlicher Arbeit eingenommen werden. Durch Bildung und Erfindungen wie Pflug und Rad konnte z.B. viel Arbeit eingespart werden. Denn es wird möglich, dass mit weniger menschlicher Arbeitskraft, mehr Menschen ernährt werden können.

Heute ist es sogar möglich, dass Berufe noch weniger augenscheinlichen Überlebensnutzen für die anderen haben müssen und viele sich um die Unterhaltung und das Vergnügen der Mitmenschen kümmern können.

Hier tauchen aber schnell zwei Grundprobleme auf, mit denen wir zu kämpfen haben:

Erstens verschwindet die Arbeit, die aufgebracht werden muss, um jede freigestellte Person zu ernähren, nicht automatisch. Es braucht entweder stetig neue Innovationen, die die Arbeit erleichtern, oder die übriggebliebenen Menschen, die die Grundversorgung übernehmen, müssen mehr und härter arbeiten, wenn mehr Menschen von der Lebensmittelbeschaffung befreit werden.

Bei einer Wirtschaftsordnung, wie wir sie heute haben, besteht immer die Tendenz, möglichst alles aus der Arbeitskraft herauszupressen, was sich herauspressen lässt. Die Konkurrenz begünstigt dies. Wenn in einem Betrieb nicht mit Höchstdruck die komplette erlaubte Zeit durchproduziert wird, können die anderen das trotzdem machen: ihre Produkte günstiger verkaufen und so den arbeitsschonenden Betrieb in den Ruin treiben. Gleichzeitig gibt es einen riesigen Bedarf nach arbeitserleichternden Innovationen, die auch dann eingesetzt werden, wenn sie eigentlich Natur und Produkt extrem schädigen, wie zum Beispiel Pestizide in der Landwirtschaft.

Das zweite Problem, das spätestens mit dem Aufkommen von künstlerischen Unterhaltungsberufen aufkommt, ist, dass die Menschen aus freien Zügen nur diejenigen freistellen möchten, mit deren neuer Tätigkeit sie etwas anfangen können.

Kunstschaffende finanziere ich dann gerne, wenn ich mir ihre Kunst auch angucken mag. Und Musik möchte ich eben auch lieber unterstützen, wenn ich Gefallen an den geschaffenen Klängen finde. Dass, wenn sich Kunstschaffende daran orientieren, die Gefahr besteht, nur in alten Bahnen zu verweilen und sich eben nicht an dem zu orientieren, was aus musikalischer Sicht richtig wäre, sondern was den Hör- oder Sehgewohnheiten des Publikums entspricht, ist, glaube ich, für die Musik und auch für alle anderen Kunstformen zu genüge besprochen worden. Es geht mir in diesem Moment auch weder darum, zu bestimmen, welche Ansprüche an das Werk gerechtfertigt bzw. richtig sind oder wer beurteilen kann, was künstlerisch wertvoll sei etc.. Das ist alles zunächst eine andere Problematik. Jedenfalls herrscht zwischen Kunstschaffenden und Kunstkonsumierenden selten Einigkeit darüber, was finanziert werden soll.

Es muss also eine neue Finanzierungsmöglichkeit gefunden werden. Und da springt in vielen Fällen dankenswerter Weise der Staat ein. Zumindest solange ich lernend oder lehrend im Hochschulbetrieb tätig bin, habe ich die Freiheit gewonnen, unabhängig von den Wünschen der Hörerschaft, meine idealen Musikvorstellungen umsetzen zu können. Für selbstständige Musikschaffende besteht so eine Rundumversorgung natürlich nicht. Trotzdem müssen auch da von einigen Seiten, sei es in Form von Steuerbegünstigungen, staatlicher Unterstützung der Ensembles, die meine Werke spielen oder Kulturtickets für Studierende, die so meine Konzerte kostenlos besuchen können, während ich das Geld von öffentlicher Hand erstattet bekomme, Unterstützungen kommen. Andernfalls wäre das Überleben für nicht mehrheitsgerecht komponierende Menschen wohl nur in seltenen Einzelfällen möglich.

Trotzdem möchte ich behaupten, dass damit die Sache nicht gelöst ist. Denn zumindest mir geht es in erster Linie nicht darum, von meiner Musik leben zu können, sondern ich komponiere sie, weil ich sie gehört wissen will, weil sie vor Menschen erklingen soll, die sie auch hören wollen.

Eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die fast alle neue Musik und eigentlich alle anspruchsvollen Kunstformen haben, ist, dass sie nicht einfach so nebenbei konsumiert werden können. Sie brauchen ein aktives, aufmerksames und Neuem freudig entgegenkommendes Publikum.

So ein Publikum muss genügend Kraft und Zeit haben, um der Musik diese Aktivität entgegenbringen zu können. Leider ist aber die Erwerbstätigkeit, die ein Großteil der Menschheit immer noch aufbringen muss, so zeit- und kräftezehrend, dass diese Aktivität nach Feierabend oder an den wenigen Ferientagen, die den Erwerbstätigen zustehen, nicht mehr aufgebracht werden kann. Stattdessen sind weniger Aktivität fordernde Kunstformen, die sich eben genau an den Bedürfnissen der Kundschaft orientieren, eine willkommene Alternative, die in den meisten Fällen vom Sofa aus oder beim Autofahren konsumiert werden kann.

Wie gut sich diese Popkulturindustrie, mit Ausnahme der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehprogramme, auch ohne staatliche Unterstützung über Wasser halten kann, zeigt, dass es eigentlich nicht am Geld liegen kann, sondern eher an einer überarbeiteten Hörerschaft, die keine Zeit hat, sich weiterzubilden, wenn es etwas wie die neue Musik so schwer hat, ein Publikum zu finden. (Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es an guten Kompositionen mangelt, aber auch dann wäre ein aktiver Austausch mit dem Publikum nötig, um dieses Problem überhaupt feststellen zu können.)

Auch wenn es sicherlich zu großen Teilen an unserer Wirtschaft liegt, dass so eine Überarbeitung erzwungen wird, sind auch die vielen vom Broterwerb freigestellten Kulturschaffenden ein Grund dafür, dass die anderen sich überarbeiten und nur noch eine Alibi-Kultur konsumieren können. Und es ist sicherlich zumindest hilfreich, diesen Umstand im Bewusstsein zu haben, wenn man sich über das Unverständnis und die Empörung, die neuen Musikformen entgegengebracht wird, ärgern möchte. Ich will nicht sagen, dass wir Komponierenden die alleinige Schuld daran tragen, dass die Kraft fehlt, sich mit unserer Musik auseinanderzusetzen. Aber eine Verstärkung dieser Lage, indem wir noch mehr staatliche Mittel fordern, herbeizusehnen, kann in meinen Augen auf keinen Fall zu einer Verbesserung führen. Vielleicht kommt das Geld, das ich dann bekomme noch nicht einmal aus Steuereinnahmen, sondern wurde von irgendeiner Bank aus der Luft gegriffen, aber für das was ich mit diesem Geld kaufe, müssen Menschen arbeiten und haben vielleicht noch ein kleines bisschen weniger Zeit, um sich kulturell zu betätigen.

Das heißt nicht, dass die Kultur keine staatliche Unterstützung bekommen kann. Vielleicht sind Gesetze sogar das, was der Entwicklung der neuen Musik gerade am meisten helfen kann. So wären beispielsweise schärfere demokratisch gefundene Gesetze zur Begrenzung der Arbeitszeit, wie sie in einer dreigliedrigen Gesellschaft gefunden werden können, meiner Vermutung nach wesentlich hilfreicher für die gesamte Kulturwelt, als Subventionen für einzelne Kultubetriebe, die dann auch ohne Publikum überleben können. Erst wenn ich nach Feierabend noch ausreichend Kraft und Zeit habe, um mich in ein anstrengendes Theaterstück, Museum oder Konzert zu begeben, wird wirklicher Kulturbetrieb überhaupt möglich. Denn so ganz losgelöst von einer kritischen Publikumsaktivität, ist auch die Musik in ihren Entwicklungsmöglichkeiten gehemmt. Sie kann dann nur in ihrer eigenen Suppe schmoren, während die Menschen, für die sie eigentlich geschrieben wurde, nach Feierabend erschöpft auf ihrem Sofa zusammenklappen. Ein aktiver Austausch zwischen Kunstschaffenden und Konsumierenden wird wohl erst dann möglich, wenn die Menschen von staatlicher Seite vor der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft geschützt werden. Das bringt in erster Linie für die Lebensqualität der Gesellschaft große Vorteile, aber vermutlich auch für die Musik. Deren Finanzierung wird sich, wenn sie gut sein sollte, dann auch ergeben.

Das Schönste für alle Musik ist, wenn sie von Menschen gemacht und von Menschen gehört werden darf. – Das erfordert Zeit!

Jonas Rybak
Author: Jonas Rybak